Praxisbeispiel 33: Reha-Zielarbeit bei kognitiven Beeinträchtigungen

Die Verständlichkeit und Transparenz der Reha-Ziele muss sowohl für Rehabilitanden als auch für die Mitglieder des Reha-Teams gewährleistet sein. Dies ist insbesondere bei geriatrischer Komorbidität zu beachten. Im Folgenden wird ein Lösungsansatz aus einer stationären orthopädischen Reha-Einrichtung mit einem hohen Anteil von AHB-Patienten vorgestellt.

Hintergrund und Ausrichtung des Konzeptes:

Das Thema „Reha-Ziele“ oder „Reha-Zielvereinbarungen“ mit Patienten ist sowohl aus Sicht der ärztlichen Leitung einer orthopädischen Einrichtung als auch aus einrichtungsübergreifender Sicht eines Auditors ein schwieriges Aufgabenfeld. Insbesondere in der orthopädischen Anschlussheilbehandlung (AHB) bei tendenziell geriatrischen Patienten müssen Qualitätsanforderungen und gelebte Praxis kritisch hinterfragt bzw. miteinander in Einklang gebracht werden.

Wichtig für eine hohe Patientenzufriedenheit in der orthopädischen Rehabilitation ist es, dass das interdisziplinäre Team, welches aus Ärzten, Therapeuten, Psychologen und der Pflege besteht, eine gemeinsame Sprache spricht (Meyer et al., 2013, Merkmale einer erfolgreichen Rehabilitationseinrichtung). Grundlage hierfür ist die Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse der Patienten sowie der Faktoren, die es diesen Patienten erschweren, die Therapieziele zu erreichen. Gute Adhärenz entspricht konsequentem Befolgen der mit den Therapeuten vereinbarten Behandlungsziele.

Im Rahmen von Zertifizierungsaudits wird immer wieder deutlich, dass die individuellen Reha- und Therapieziele nicht für alle beteiligten Berufsgruppen des Teams verständlich sind. Dies kann an der sprachlichen Formulierung, aber auch an der Art der Dokumentation liegen; oft sind Formulare in der Krankenakte „versteckt“ und können dadurch nicht durchgängig mit den Patienten kommuniziert werden.

Um diese Adhärenz der Patienten zu erhöhen, werden in der Rehaklinik Bad Boll schon seit einiger Zeit patientenverständliche abteilungsübergreifende Therapieziele formuliert und für Patienten und Therapeuten transparent kommuniziert.

Zielgruppe:

Das Konzept ist auf eine orthopädische Klinik mit 185 Betten zugeschnitten, von denen lediglich 10 % von der Deutschen Rentenversicherung belegt werden. Der AHB-Anteil der durchgeführten Verfahren beträgt ca. 95 %.

Ein typischer Fall ist ein 75-jähriger, multimorbider männlicher Patient, der zwei Wochen nach osteosynthetischer Versorgung einer komplizierten proximalen Oberschenkelfraktur zur Aufnahme kommt. Auf die Frage im Rahmen der Aufnahmeuntersuchung,  was er eigentlich die nächsten Wochen erreichen möchte, kann der Patient spontan keine vernünftige Antwort geben.

DurchfĂĽhrung und Inhalte:

In einem Konsensusprozess der verschiedenen Berufsgruppen der orthopädischen Klinik wurden Therapieziele mit der Maßgabe formuliert, dass sie für den Patienten verständlich sein sollten. Da aufgrund der klinischen Situation sehr differenzierte Therapieziele in den einzelnen Berufsgruppen (Ärzte, Therapeuten, Psychologen, Pflege) existierten, musste ein ,,gemeinsamer Nenner“ gefunden werden. Die folgende Kurzliste mit 10 Therapiezielen ist das Ergebnis dieses Optimierungsprozesses:

1. Sicheres Gehen mit / ohne Gehhilfen

2. Erweiterung der Gehstrecke

3. Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit

4. Schmerzlinderung,-freiheit

5. Wundheilung

6. Entstauung/Schwellungsreduktion

7. Kräftigung der Körpermuskulatur

8. Allgemeine Kräftigung

9. Verbesserung der Körperwahrnehmung

10. Selbstständigkeit im Alltag

Die Therapieziele müssen für jeden einzelnen Patienten abteilungsübergreifend kommuniziert werden. Aus diesem Grunde wurde in der hausinternen EDV der Begriff „Therapieziele“ auf sämtlichen Formularen hinterlegt, die von den unterschiedlichen Abteilungen verwendet werden. An dieser Stelle werden automatisch die Therapieziele eingefügt, die vom Arzt bei der Aufnahmeuntersuchung festgelegt und ggf. nach Abstimmung im therapeutischen Team angepasst werden.

Die gleichen Ziele werden - in Kurzform und verständlich für die Patienten - an zentraler Stelle auf dem so genannten Verordnungsbogen vermerkt. Durch diese Visualisierung „auf zwei Ebenen“ ist es gewährleistet, dass einerseits jedes Mitglied des therapeutischen Teams unmittelbaren Zugriff auf die vereinbarten Reha-Ziele hat, andererseits bei der Behandlung des Patienten klare und allgemein verständliche Begriffe die Basis für eine nachhaltige Kommunikation zwischen Patient und Therapeut sicherstellen.

Beteiligte Berufsgruppen und Ausstattung:

Die in der EDV hinterlegte Zielauswahlliste (10 Ziele) ermöglicht die Verbreitung der abteilungsübergreifenden allgemeinen Therapieziele in allen elektronisch angelegten Formularen und eine nachhaltige Kommunikation mit dem Patienten. Für die Dokumentation im Entlassungsbericht, insbesondere bei jüngeren Patienten der Rentenversicherung, werden ergänzend noch weitere, sowohl indikationsspezifische, als auch funktionsbezogene Rehabilitationsziele mit einbezogen. Diese Rehabilitationsziele können nach dem Modell der ICF ganz differenziert die zu behandelnden Funktionseinschränkungen und Fähigkeitsstörungen beschreiben und im Rahmen von berufsgruppenspezifischen Therapiezielen zusammengefasst und aufgelistet werden.

 

Im Fall des oben erwähnten Patienten können solche Ziele beispielsweise lauten:

  • Ă„rzte: Reduktion der Schmerzsymptomatik, Sicherstellung einer ungestörten Frakturheilung
  • Physiotherapie: Einhaltung der vorgegebenen Teilbelastung mit 20 kg fĂĽr 6 Wochen, Vermeiden von Hebelkräften am Gelenk
  • Lymphtherapie: Reduktion der Stauungssymptomatik im Bereich des linken Beines
  • Pflege: Erlangen eigenständiger Transfers Bett/Rollstuhl/Toilette inklusive Benutzung adäquater Gehhilfen (z. B. hoher Gehwagen)
  • Sozialdienst: Wiedererlangen der Fähigkeit, im eigenen Haus 1-2 Treppen steigen zu können, um längerfristig die Eigenversorgung wieder ermöglichen zu können
  • Psychologie: Bewältigung des erlittenen Traumas
  • Diätassistentin: Gewichtsreduktion
  • Klinik-Seelsorger: Der Patient möchte in 3-4 Monaten wieder selbstständig einen Gottesdienst besuchen können

Das vorliegende Beispiel zeigt eindrucksvoll die Diskrepanz zwischen der Forderung nach allgemein verständlichen Therapiezielen für Rehabilitand und Team sowie der Notwendigkeit, innerhalb der einzelnen Abteilungen differenzierte, sowohl indikationsspezifische, als auch funktionsbezogene Therapieziele zu definieren und dokumentieren. In Abhängigkeit von der vorliegenden Rehabilitationsdiagnose, den Co-Morbiditäten und den damit zusammenhängenden Funktionseinschränkungen und Fähigkeitsstörungen ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer differenzierten, gleichzeitig aber auch pragmatischen Vorgehensweise, die sowohl den Bedürfnissen der Rehabilitanden, als auch der einzelnen Berufsgruppen des therapeutischen Teams entgegen kommt.

Literatur:

Meyer T, Brandes, I. Zeisberger, M. Stamer, M.: Merkmale einer erfolgreichen Reha-Einrichtung – Hintergrund und Vorgehen im Projekt MeeR. In: Arbeitskreis Klinische Psychologie in der Rehabilitation BDP (Hrsg.): (Selbst-) Konzepte bei veränderten Lebensbedingungen, Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Berlin (2013), 66-79.

Quatmann M., Dibbelt S., Dudeck A., Glattacker M., Greitemann B., Jäckel W.H.Zielvereinbarungen in der Rehabilitation: Verständnis und Handhabung des Begriffs „Reha-Ziele“ bei Ärzten und Patienten, DRV-Schriften Band 93 (2011), 161-163

Nagl M., Farin-Glattacker E.Patientenseitige Gesundheitsbewertungen und arztseitige Zielfestlegungen in der Rehabilitation: Ăśbereinstimmung oder Diskrepanz?, DRV-Schriften Band 93 (2011), 147-148

Quelle:
Rehaklinik Bad Boll, Am Kurpark 1, 73087 Bad Boll
Fachklinik für Orthopädie, Rheumatologie und Schmerztherapie
Nadine D’Elia, Leitende Qualitätsmanagementbeauftragte, nd@rehaklinik-bad-boll.de,
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Dr. Helmut TĂĽchert, Chefarzt, ht@rehaklinik-bad-boll.de, Tel.-Nr. 07164 81-339
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